Barbara Mittler

[
1]

Sinologie und Musik

Das Studium der chinesischen Musik, relativ avanciert und ausgebaut v.a. in den Vereinigten Staaten (Rulan CHAO, Lothar von FALKENHAUSEN, HAN Kuo-huang Bell YUNG etc), ist in Europa ein Stiefkind sowohl in der Sinologie als auch in der Musikwissenschaft oder der Musikethnologie. Die Beschäftigung mit chinesischer Musik innerhalb der Sinologie ist hier wie da häufig immer noch rein textbezogen, beschränkt auf die Rezeption, Interpretation und Übersetzung von philosophischen und musiktheoretischen Texten oder von Texten von Musikdramen oder Liedern. In der Musikwissenschaft und -ethnologie andererseits, erscheint die Sprachbarriere oft so unendlich groß, daß sich die wenigsten Musikwissenschaftler wirklich an chinesische Materialien heranwagen, nicht einmal, wenn es sich um Neue Musik oder Popmusik aus China handelt (die musikwissenschaftliche Zeitschrift MusikTexte ist eine rühmliche Ausnahme, die die Regel bestätigt).

Studieninhalte--Forschungsgebiete--Schwerpunkte

Das Studium der chinesischen Musik, so ausgefallen es auch klingen mag, muß nicht nur Selbstzweck sein. Der in den chinesischen Klassikern angelegte enge Zusammenhang von Musik und Politik, der Gedanke, daß das Wohl eines Staates von der richtigen Wahl des Kammertons abhänge, findet seine Fortsetzung auch im China der Gegenwart. Über die Auswahl und Manipulation von Musik wird dort heute noch Politik gemacht, man denke nur an die Musterstücke Jiang Qings oder an die Benutzung der Internationale auf dem Tian'anmenplatz und bei Massendemonstrationen in Hong Kong.

Chinesische Musik ist zudem eine holistische Tradition, nicht beschränkt auf Instrumentales und Vokales, sondern ebenso bestimmt von Akrobatik, Mimik, Ballett, Theater und Malerei. Und nicht nur was die Kunstformen angeht ist diese Musik ein weites Feld: fast jede Region, jede Stadt, jeder Tempel hat eine eigene spezifische musikalische Tradition, eigene Melodien, manchmal sogar eigene Instrumente. Das Studium chinesischer Musik ist also ein möglicher Weg die Größe und Unterschiedlichkeit Chinas und ihrer Kunst zu begreifen.

Umso mehr, als Musik in China ein nicht wegzudenkender Aspekt des täglichen Lebens ist. Bei einem morgendlichen Besuch in chinesischen Parks wird man eben nicht nur alte Damen und Herren beim Schattenboxen beobachten, sondern auch kleine Grüppchen sehen und hören, die Teile aus einer Lokaloper musizieren. Jeder Spaziergang durch die Felder, jeder Einkauf in einer engen Geschäftsstraße, jeder Tempelbesuch in China ist begleitet von Musik.

Und nicht nur die traditionelle Volksmusik wird dem Sinologen immer wieder in seinem Studium begegnen: eine junge Generation von chinesischen Komponisten erlangt heute neben den Filmemachern der fünften Generation internationalen Ruf. Tan Dun, Qu Xiaosong und Su Cong sind schon heute Namen, mit denen ein ausgebildeter Sinologe ebenso selbstverständlich umzugehen hat, wie mit denen von Chen Kaige, Zhang Yimou und Tian Zhuangzhuang. Auch darum lohnt es sich vielleicht, in chinesische Musik einmal genauer hineinzuhören.

Fachkombinationen--Universitäten

Die Fachkombination Sinologie und Musikethnologie kommt nur an der Freien Universität in Berlin und an der Universität Köln in "Reinform" vor. Allerdings gibt es in Deutschland durchaus sowohl Sinologische als auch Musikwissenschaftliche Seminare, die Themen im Bereich der chinesischen Musik unterrichten. In der Sinologie seien da die Freie Universität Berlin (v.a. Pop- und Rockmusik, Rezeption westlicher Musik und Pekingoper--Andreas Steen), die Universität Göttingen (v.a. Lokalopern, Ästhetik und Musikterminologie--Prof. Brandl, Gerlinde Gild), die Universität Hamburg (Instrumentalmusik im traditionellen China--Dorothee Schaab-Hanke) und die Universität Heidelberg (Neue Musik und ihre traditionellen Vorläufer, Musikarchäologie-- Barbara Mittler, Magdalene v. Dewall) genannt. Von der musikwissenschaftlichen bzw. musikethnologischen Seite finden sich vereinzelt Angebote zu chinesischer Musik in Berlin, Bremen, Heidelberg, Innsbruck, Köln und Zürich.

Außerdem gibt es in Deutschland (und im näheren europäischen Ausland) einige Universitäten und Institutionen, die bestimmte Materialien zum Studium der chinesischen Musik sammeln: Eine der bestausgestattetsten Institutionen mit Quellen und Tonbeispielen zur traditionellen chinesischen Musik war das inzwischen elider stillgelegte Institut für traditionelle Musik in Berlin (Prof. Max Peter Baumann). Musiktheoretische Werke von ihren Anfängen bis in die Republikzeit sowie Libretti von einer großen Zahl von Lokalopern sind am Sinologischen Seminar in Göttingen zu finden. Die wohl größte Sammlung zur modernen chinesischen Musik (die, im Unterschied zur ständigen Sammlung an der Staatsbibliothek München, auch unpublizierte Materialien enthält) befindet sich am Sinologischen Seminar in Heidelberg. Diese sogenannte C.C.Liu-Collection geht auf eine Sammlung des Hongkonger Gelehrten Dr. C. C. Liu (Hong Kong University Estates Office) zurück, die 1991 für das Seminar kopiert wurde und weiterhin laufend ergänzt wird. Sie umfaßt Hunderte von Partituren und Tonträgern mit Kompositionen Hongkong-chinesischer, taiwanesischer und volksrepublikanischer Komponisten des 20. Jahrhunderts, eine extensive Sammlung von Revolutionsliedern aus Taiwan und der Volksrepublik China sowie einen kompletten Satz der berüchtigten Modellopern Jiang Qings in Form von Tonträgern, Videos und Partituren. In Heidelberg werden außerdem Pekingopernaufnahmen und Filme der 30er Jahre gesammelt, die reiches Analysematerial für den musikalisch interessierten Sinologen enthalten.

In Leiden bietet die Bibliothek der CHIME Foundation (Frank Kouwenhoven, Antoinet Schimmelpenninck) sicher die in Europa umfassendste Materialsammlung zu den unterschiedlichsten Aspekten chinesischer Musik. Die konstant ergänzte Sammlung enthält Monographien, Zeitschriften, Tonträger, Videoaufnahmen und eine Sammlung von Dissertationen zu chinesischer Musik, vom Volkslied bis zur Avantgarde-Oper, von der Filmmusik der 30er Jahre bis zum Rocksong Cui Jians.

Manch kleines Museum birgt außerdem unverhofft chinesische musikalische "Schätze," die der Betrachtung lohnen: Das Pitts Rivers Museum in Oxford sei hier genannt, ebenso wie die Portheim-Stiftung in Heidelberg.

Wichtige Literatur (*= zur Anschaffung empfohlen)

a. Monographien und Aufsätze

CHOU Wen-chung "Asian Concepts and Twentieht-Century Western Composers" in: Musical Quarterly 1971.LVII/2:211-229.
Ein Pionierstück, das die Verbindung zwischen asiatischer traditioneller Musik und Neuer Musik herstellt.

JONES Andrew Like A Knife. Ideology and Genre in Contemporary Chinese Popular Music, Ithaca 1992.

*KAUFMANN Walter Musical References in the Chinese Classics, Detroit 1976.
Eine Sammlung von Übersetzungen aus den Klassikern mit einigen guten zusammenfassenden Essays zu Aspekten chinesischer musikalischer Ritualtraditionen.

KOUWENHOVEN Frank "Mainland China's New Music" part 1-3 in: CHIME 1990.2:2;58-93, CHIME 1991.3:42-75, CHIME 1992.5:76-134.
Aufsatz in drei Teilen, basierend auf den extensiven Interviews des Autors mit volksrepublikanischen Komponisten, mit vielen wertvollen Analysen und Interpretationsansätzen

*KRAUS Richard Curt Pianos and Politics in China: Middle-Class Ambitions and the Struggle over Western Music, New York 1989.
Eines der lesbarsten Bücher zur Verbreitung westlicher Musikkultur in der Volksrepublik China mit einem Schwerpunkt auf den politischen Aspekten dieser Verbreitung.

LIANG Mingyue Music of the Billion: An Introduction to Chinese Musical Culture, New York 1985.
Eine übersichtliche und lesbare Darstellung der Entwicklung chinesischer Musik, ihrer unterschiedlichen Genres und Instrumente vom Altertum bis in die Gegenwart.

LIU Ching-chih Zhongguo Xin Yinyueshi Lunji (Geschichte der Neuen Musik in China, Gesammelte Aufsätze), 4 Bde. Hong Kong 1986, 1988, 1990, 1992.
Umfassende und gut redigierte Aufsatzsammlungen zu unterschiedlichsten Aspekten (Ästhetik, Instrumentenreform, Modellopern) und Komponisten der neueren chinesischen Musik in Hong Kong, Taiwan und der Volksrepublik China.

MITTLER Barbara Dangerous Tunes- The politics of music in Hong Kong, Taiwan and the People's Republic of China since 1949, Wiesbaden 1997.
Eine umfassende Studie der Neuen Musik in China seit ihren Anfängen im späten 19. Jahrhundert, basierend auf Interviews und zahlreichen Detailanalysen, die sich u.a. mit der Frage des Einflusses von unterschiedlicher Parteipolitik auf chinesische musikalische Produktion auseinandersetzt.

*VAN GULIK The Lore of the Chinese Lute, Tokyo 1940
Trotz des frühen Erscheinungsdatums und der sonderbaren Bezeichnung "lute" für die chinesische Wölbbrettzither guqin, eines der lesenswertesten Bucher zu den Traditionen und Mythen um dieses "Literateninstrument."

WICHMANN Elizabeth Listening to Theatre: The Aural Dimension of Beijing Opera, Honolulu 1991.
Eine der wenigen Studien zu musikalischen Aspekten der Pekingoperntradition.

b. Zeitschriften:

Asian Music (Cornell University, Department of Asian Studies, 388 Rockefeller Hall, Ithaca, New York 14853-2502, U.S.A)
Bringt informative und gut-ausgewählte Artikel zur Musik Asiens, wenn auch seltener solche, die sich mit chinesischer Musik beschäftigen.

*CHIME (European Foundation for Chinese Music Research. P.O. Box 11092, 2301 EB Leiden, Holland)
Hervorragende Zeitschrift mit Informationen zu neuen und alten chinesischen musikalischen Traditionen mit zahllosen praktischen (Konzertkalender etc.) und bibliographischen Hinweisen (inklusive Dissertationen und Forschungsprojekte).

Zhongguo yinyue xue (Musicology in China) Beijing (Dongwai xinyuanli xi, 1F, "Zhongguo yinyue xue" zazhishe faxingbu)
Die wohl substantiellste und wenig von politischen Direktiven beeinflußte Zeitschrift der chinesischen Musikwissenschaft.

Berufliche Perspektiven:

Da Kulturwissenschaftler breit gesät sind, läßt sich kein allzu rosiges Bild für die Berufsaussichten eines in Musik und Sinologie ausgebildeten Kandidaten malen. Wenn er/sie Glück hat, kann er/sie in der Forschung bleiben und im akademischen Bereich reussieren. Auch der Journalismus und das Kulturmanagement stehen einem so ausgebildeten Sinologen offen: in Institutionen wie dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin etwa mag er/sie wilkommen sein, doch gibt es davon in Deutschland leider nicht allzu viele. Dennoch, da die Berufsaussichten für Sinologen nichts direkt mit ihrer innerfachlichen Qualifikation zu tun haben scheinen (vgl. die Statistik in DIE ZEIT Nr. 24: 7.6.96 "Das Orchideenfach Sinologie öffnet Chancen in der Wirtschaft"), sollte sich jeder Interessierte ruhigen Gewissens in diesen noch wenig abgegrasten Bereich vorwagen. Hier gibt es noch Pionierarbeit zu leisten.


[1] Ich danke Gerlinde Gild für zahlreiche nützliche Tips und Hinweise. [back]



Back to Chinese Studies in Europe
Institutes and Professors of Sinology at German, Austrian and Swiss Universities (1945-)
Chinese Studies in Austria, Germany and Switzerland
Online-Studienführer Chinawissenschaften